Von der Kaiserstrecke zum ersten Fahrdraht im Wendland

Die Amerikalinie im Wandel der Jahrhunderte

 

Keine andere Strecke im östlichen Niedersachsen und in der angrenzenden Altmark symbolisiert so den Aufbruch in eine neue Zeit wie die Amerikalinie. Waren es im vorletzten Jahrhundert die Auswandererzüge die die Menschen in die neue Welt brachten, so war es im ausgehenden 20. Jahrhundert die friedliche Revolution in der damaligen DDR, die der Amerikalinie neues Leben einhauchte und ab 1999 dann auch den Fahrdraht ins Wendland brachte.

 

Die Geschichte der Entstehung der zunächst Kaiserstrecke genannten Linie ist ebenso interessant wie der wechselvolle Verlauf der Geschichte Deutschlands. Im Gegensatz zu der zeitgleich geplanten Strecke von Ludwigslust nach Buchholz überdauerte die Amerikalinie trotz fast 50-jähriger Unterbrechung bis heute. Geplant in Konkurrenz zur vorgenannten Linie war die Amerikalinie von Anfang an wirtschaftlich erfolgreich. Dies zeigt sich bis heute, nicht zuletzt im frühzeitigen zweigleisigen Ausbau und der späteren Aufnahme als Projekt Nr. 3 in den Ausbauplan „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“.

 

„Uelzen, 20. April 1873: Der Verkehr auf der am 15.d.M. eröffneten Eisenbahn Salzwedel-Uelzen-Langwedel scheint sich lebhaft entwickeln zu wollen; bislang fahren zwar nur Güterzüge, allein diese sind regelmäßig von beträchtlicher Länge, und benutzen auch schon zahlreiche Personen die allerdings langsam fahrenden Güterzüge. Uebrigens wurden bisher nur Wagen dritter Classe an die Güterzüge angehängt und auch nur zu diesen Billets ausgegeben. Am 15. Mai beginnt dann der eigentliche Personenverkehr …..“ so das „Verdener Anzeigeblatt“ Nr. 658 vom 24. April 1873.

 

Aber, wie kam es zu dieser Entwicklung? Gründe, die zum Bau der Amerikalinie führten, gibt es zahlreiche, zwei wesentliche überragen aber alles Andere und sollen hier genannt werden. Wie stets in damaliger Zeit waren militärische Aspekte nicht unerheblich, so spielte auch der 1869 eingeweihte Marinestützpunkt Wilhelmshaven eine nicht geringe Rolle. Bereits um 1850 wollte Preußen seine westlichen Provinzen Westfalen und das Rheinland mit der Eisenbahn an Berlin anbinden. Zwar gab es zu dieser Zeit bereits eine Bahnlinie von Wittenberge über Stendal nach Magdeburg sowie über Lehrte nach Hannover, aber es fehlte die Verbindung Berlin-Stendal und die Weiterführung nach Lehrte und somit zum Bahnknoten Hannover. So entstand das Projekt der „Lehrter Bahn“.

 

In jenen Anfangsjahren des Eisenbahnwesens in Deutschland bildete Preußen noch kein homogenes Staatsgebiet. Die gewünschte Anbindung der westlichen Landesteile führte über hannoversches oder braunschweigisches „Ausland“ und so in der Planung zu einer Vielzahl von Varianten. Bei diesen spielten dann auch alternative Linienführungen durch das hannoversche Wendland eine Rolle, die wegen der durchaus beachtenswerten Umstände des Auswahlverfahrens hier näher beleuchtet werden sollen.

 

Rückblickend kann durchaus die These vertreten werden, dass die bis heute spürbare Randlage des hannoverschen Wendlandes und die verkehrlich günstige Anbindung der Stadt Uelzen ihren Ursprung in der Planung der Linienführung der heutigen Amerikalinie hatten. Betrachten wir den Zeitraum von 1853 bis zur Betriebsaufnahme kristallisieren sich zwei Lösungsansätze heraus. Da wäre zum einen eine „wendländisch-hannoversche“ Lösung mit einer Linienführung über Lüchow, sowie eine „preußische“, die das Wendland nur an seinem südlichsten Ausläufer berührt, aber Salzwedel mit anbinden würde. Ab Lüchow standen zwei Varianten zur Wahl – quer durch das Wendland auf Bevensen gerichtet (bei einer späteren Realisierung der Kleinbahn-Projekte Uelzen-Lüchow und Bevensen-Brockhöfe wären beide Orte echte Bahnknoten geworden) oder unter Einbindung von Hitzacker und Dannenberg mit Lüneburg als Endpunkt.

 

Die preußische Lösung hingegen hatte von Beginn an das Ziel einer „Inlandslinie“ mit möglichst weiten Teilen auf preußischem Staatsgebiet – nur so kam Uelzen überhaupt in die engere Wahl, Bevensen oder Lüneburg wären geografisch gesehen sehr viel naheliegender gewesen. Eine bereits um 1855 in der Presse diskutierte Kompromisslösung mit einer Linienführung von Seehausen (gelegen an der Magdeburg-Wittenberge-Hamburger Eisenbahn) durch den Lemgow über Lüchow nach Uelzen hätte im Wendland zu einer nachhaltig aufwärts gerichteten Entwicklung führen können, hatte aber Dannenberg und Bergen an der Dumme nicht im Blick. Dieser, sehr energisch Lüchower Interessen vertretende Vorschlag, kam nicht zuletzt dadurch zu Fall. Die sich recht bald abzeichnende Wirtschaftskrise im Wendland, flankiert von einem Aufschwung in der Swinmark, weckte in Uelzen durchaus Begehrlichkeiten im Hinblick auf die heutige Linienführung. Kaum vorstellbar, aber der „Binnenverkehr“ von Bergen an der Dumme nach Uelzen war ab 1873 durchaus beachtlich.

 

Entscheidend für die Linienführung war dann aber die Tatsache, dass der preußische Staat festlegte nicht in Seehausen, sondern in Stendal von der Bahnlinie Magdeburg-Wittenberge Richtung Westen abzuzweigen. Auch in Dannenberg kurz aufgeflammte Aktivitäten zu Gunsten einer Relation Lüchow-Dannenberg-Hitzacker-Göhrde nach Lüneburg kamen zu spät und wurden im Hinblick auf die parallelen Planungen Wittenberge-Dannenberg-Lüneburg-Buchholz nie ernsthaft verfolgt. Im Ergebnis aller Aktivitäten stand dann auch die Tatsache, dass Lüchow, auch durch eigene Fehler, bis 1891 ohne Bahnanschluss blieb.

 

Fakt ist: Durch die Einigkeit der Städte Salzwedel und Uelzen, die, zumindest bis zur Annexion Hannovers durch Preußen im Jahr 1866, weitestgehend auf preußischem Staatsgebiet verlaufende Streckenführung und die an anderer Stelle gewünschte Weiterführung von Uelzen über Langwedel nach Bremen und somit an die Nordsee gaben der ersten Eisenbahnlinie im Wendland ihr späteres Gesicht – auch wenn es nur wenige Kilometer waren.

 

Im Gegensatz zum bis 1866 von Preußen unabhängigen Königreich Hannover und dem Herzogtum Braunschweig setzte Berlin beim Bau neuer Linien auf private Eisenbahngesellschaften. So ist es nur folgerichtig, dass die Magdeburg-Halberstädter-Eisenbahn-Gesellschaft (MHE) am 12. Juni 1867 mit der Planung und dem Bau beauftragt wurde. Während östlich von Salzwedel bereits am 15. März 1870 die ersten Züge fuhren, verzögerte der deutsch-französische Krieg die Arbeiten westlich Salzwedels um mindestens ein Jahr. Auch die Einfädelung der neuen Linie in den Bahnhof Uelzen war lange umstritten. Die dann gewählte Unterquerung der bestehenden Nord-Süd-Strecke hat bis heute Bestand und wird auch in beide Richtungen genutzt. Zusätzlich ging zum Fahrplanwechsel 2013 der Veerßer-Bogen in Betrieb. Dieser ermöglicht eine niveau- und kreuzungsfreie Einfädelung in Fahrtrichtung Norden und ist Teil der noch zu beschreibenden Ertüchtigung der Strecke für die Erfordernisse des dritten Jahrhunderts der Amerikalinie.

 

Doch zunächst zurück zu den Anfängen. Die Bauarbeiten westlich von Salzwedel schritten nach dem „Krieg 1870/71“ zügig voran, obwohl das Gelände hügelig und die Streckenführung durch viele Bögen gekennzeichnet war. Einige Brückenbauwerke forderten die Erbauer besonders. Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang die Überführung der Dumme am Bahnhof Bergen, die Straßenbrücke vor dem Haltepunkt Bude 75 (später Varbitz) und die oben erwähnte Unterführung der Chaussee nach Soltau und der Bahnlinie Lehrte-Harburg vor Uelzen. Bis August 1872 war die Strecke bis Uelzen durch Bauzüge befahrbar. Am 15. März 1873 fuhr der erste planmäßige Güterzug, Personenzüge folgten ab dem 15. Mai 1873. In der Folgezeit entwickelte sich ein sehr reger Verkehr, so fuhren allein bereits 1873 täglich drei Extrazüge mit Vieh über Salzwedel, Bergen, Billerbeck, Bude 75 und Uelzen. Insgesamt passierten an Spitzentagen bis zu 64 Züge das südliche Wendland. Einen großen Anteil am Verkehr hatten von Beginn an Auswandererzüge von Berlin nach Bremerhaven, direkt an die Columbuskaje. Wie allgemein bekannt, gaben die Auswandererströme aus dem Osten, aus Polen, Pommern Schlesien und Galizien der Strecke in ihrer gesamten Länge den – bis heute gebräuchlichen –  Beinamen Amerikalinie.

 

Der Schwerpunkt des Verkehrs, auf der seit 1907 durchgehend zweigleisigen Strecke, liegt aber dennoch bis heute auf dem Regionalverkehr. Verkehrten bis 1944 noch acht D-Zugpaare, war es zuletzt, nachdem der EC-Wawel zum Fahrplanwechsel im Dezember 2014 als einziger internationaler Zug eingestellt wurde, nur noch der IC 1930/1931, der freitags und sonntags die Beförderung der in der Heide stationierten Soldaten bis zum Fahrplanwechsel 2017 sicherstellte. Einzig die unregelmäßig verkehrenden Interregio-Express (IRE) Zugpaare sorgen für eine durchgehende Verbindung in die Hauptstadt – allerdings nur mit Halt in Uelzen und Salzwedel. Betrug die Fahrzeit zwischen Salzwedel und Uelzen in den ersten Jahren noch eine Stunde und 12 Minuten benötigt der Regionalexpress des Jahres 2015 mit Halten in Stederdorf, Wieren, Soltendieck und Schnega nur noch 35 Minuten.

 

Das zwischenzeitliche Aus der Strecke kam mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Aufteilung des besiegten „tausendjährigen Reichs“ in vier Besatzungszonen machte die Grenze des Wendlands zu Sachsen-Anhalt zur Grenze zwischen zwei unversöhnlichen Machtblöcken in Ost und West. Ab dem 12. September 1945 gab es keinen durchgehenden Regelzugverkehr mehr. Der Bahnhof Bergen, gelegen in Klein Grabenstedt im Kreis Salzwedel, war durch den späteren „eisernen Vorhang“ von der Swinmark abgetrennt. Züge aus Uelzen endeten in Schnega. Der Betrieb vom Bahnhof Bergen nach Salzwedel hielt sich noch bis 1951 und wurde dann eingestellt. Die Strecke wurde daraufhin sofort demontiert, dass Material dem Vernehmen nach für den ebenfalls teilungsbedingten Bau des Berliner Außenrings verwendet. Daran änderte auch der im Helmstedter Abkommen vom 11. Mai 1949 gefällte Beschluss zur Einrichtung einer Grenzübergangstelle nichts – nicht ein Zug durchfuhr die innerdeutsche Grenze.

 

Die Reaktion auf westlicher Seite erfolgte umgehend. Die Reichsbahndirektion Hannover richtete unweit der Demarkationslinie zum 15. Dezember 1945 den Haltepunkt Nienbergen für den Personenverkehr (ab 1948 auch Gütertarifpunkt) ein. Bereits in den 1950er Jahren nahm der Personenverkehr in der dünnbesiedelten Region spürbar ab. Zuletzt verkehrten nur noch wenige Schienenbusse, so im Sommerfahrplan 1966 deren drei Zugpaare. Diese blieben noch bis zur endgültigen Einstellung des Personenverkehrs am 26. Mai 1974 im Kursbuch. Das zweite Gleis zwischen Nienbergen und Wieren wurde bereits 1954 entfernt. Der Güterverkehr hielt sich mit landwirtschaftlichen Gütern noch bis in das Jahr 1993 und wurde zuletzt durch die Osthannoverschen Eisenbahnen (OHE) bedient. Nienbergen war fortan nur noch das Ziel von Sonderfahrten für Eisenbahnfreunde.

 

Unmittelbar nach den Ereignissen des 9. November 1989 wurden Rufe nach einem Wiederaufbau zwischen Nienbergen und Salzwedel laut. Folgerichtig wurde die Amerikalinie durch Beschluss des deutschen Bundestages vom April 1991 als „Nr. 3“ in die Liste der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ aufgenommen. Dennoch dauerte es noch fast ein Jahrzehnt bis der erste Planzug bei Nienbergen die Grenze „durchbrach“. Zweigleisig, durchgehend elektrifiziert und für 200 Stundenkilometer ausgebaut sollte sie werden. Geblieben ist ein Gleis für 160 km/h und selbst die Elektrifizierung stand lange auf der Kippe. Dem ersten Spatenstich am 24. April 1993 folgte ein zügiger Ausbau auf östlicher Seite. Anders im Westen! Hier war für den Abschnitt Landesgrenze-Wieren ein Planfeststellungsverfahren erforderlich. Besorgte Bürger – manch einer hatte nicht mit einer Grenzöffnung gerechnet und zu dicht an den Gleisen gebaut – setzen zunächst ihre berechtigten Interessen durch und sorgten für Lärmschutz, verkehrliche Maßnahmen (niveaufrei Kreuzung am Bahnhof Schnega) und den Erhalt des Bahnhofs Schnega für Personenzüge. Nebenbei bemerkt ist Schnega sogar Kreuzungsbahnhof geworden und heute ein beliebter Standort für Fotofreunde.

 

Im Dezember 1998 erging dann der Planfeststellungsbeschluss und die Bauarbeiten begannen vollumfänglich im Februar 1999 nachdem die „Projektgruppe Bahnbau Deutsche Einheit“ (PBDE) in Wieren und Schnega Anlieger und Interessierte über den Stand der Planungen ins Bild gesetzt hatte. Ein erster Probezug, bestehend aus dem Dieseltriebwagen 628 539-9, konnte am 01. November aus Salzwedel kommend durch die neuen Bahnhöfe Soltendieck und Schnega rollen. Stederdorf und Wieren wurden ebenfalls modernisiert, sahen aber auch schon vor dem Ausbau den Verkehr Uelzen-Braunschweig.  Der Fahrdraht wurde am 25. November unter 15KV Spannung gesetzt, die moderne Zugförderung hielt erstmals Einzug in das beschaulichen Wendland. Offiziell eröffnet wurde die Strecke am 18. Dezember. Auf der Brücke über den Harper Mühlenbach durchfuhr ein von einer Ellok der Baureihe 143 geschobener Wendezug ein Absperrband und löste so ein Feuerwerk aus. Tags darauf standen alle Züge der Bevölkerung zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung. Der Reisezugverkehr entwickelte sich langsam aber stetig und erfüllt die Erwartungen. Aktuell werden die Bahnhöfe entlang der Strecke von zwölf Regionalzügen je Richtung erreicht, im ersten Fahrplan vom Mai 1873 waren es nur sechs. Die Fernzüge durchfahren das Wendland ohne Halt, aber das war auch vor dem zweiten Weltkrieg so. Lediglich in Schnega ist der eine oder andere durch Zugkreuzungen bedingte Betriebshalt zu beobachten. Aber auch das ist bald Geschichte. Der durchgehende zweigleisige Ausbau als Teil des Ost-Korridors Uelzen-Regensburg der Strecke Hamburg-Nürnberg hat in einigen Abschnitten bereits begonnen. Doch davon dann später mehr.

Alle wichtigen Daten haben wir in einer Zeittafel zusammengefasst. Sollte etwas fehlen, freuen wir uns über eine eMail.

 

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